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Deutsche Wähler fordern Wandel: Wirtschaftsflaute setzt Europas größte Volkswirtschaft unter Druck

Gelsenkirchen, Deutschland, 17. Februar (Reuters) – Mittelständische Unternehmen fordern mehr Unterstützung von der Politik

Lars Baumgürtel hat eine klare Botschaft an die deutsche Politik: Es ist Zeit, finanzielle Unterstützung bereitzustellen. Der 58-jährige Geschäftsführer leitet eines der letzten verbliebenen Produktionsunternehmen in Gelsenkirchen, einer einst florierenden Bergbaustadt im industriellen Ruhrgebiet.

Doch sein Unternehmen, wie viele andere in Deutschlands Mittelstand – dem Rückgrat der Wirtschaft –, kämpft mit den drastisch gestiegenen Energiekosten. Seit dem Ende der russischen Gaslieferungen infolge des Ukraine-Kriegs sind die Produktionskosten enorm gestiegen, was die Wettbewerbsfähigkeit vieler Betriebe gefährdet. Besonders energieintensive Industrien stehen unter massivem Druck und fordern nun gezielte staatliche Hilfen, um den Standort Deutschland langfristig zu sichern.

 

Deutschlands größte Volkswirtschaft kämpft mit wirtschaftlichem Abschwung – Hoffnung auf Erneuerung wächst

Die deutsche Wirtschaft ist im Jahr 2024 zum zweiten Mal in Folge geschrumpft und verzeichnet damit die schlechteste Entwicklung seit zwei Jahrzehnten. Besonders hart getroffen hat es Gelsenkirchen – die Stadt weist die höchste Arbeitslosenquote des Landes auf, was zu einem dramatischen Anstieg der Popularität der rechtspopulistischen Partei Alternative für Deutschland (AfD) geführt hat.

Im Vorfeld der Bundestagswahl am Sonntag wird landesweit heftig darüber debattiert, wie Deutschland seine wirtschaftliche Zukunft sichern kann. Experten fordern umfangreiche Investitionen in Infrastruktur und Innovation, um das Land wettbewerbsfähig zu halten. Besonders der Energiesektor steht im Fokus, denn Deutschland hat sich verpflichtet, bis 2045 klimaneutral zu werden.

Unternehmer wie Baumgürtel hoffen, dass eine neue Regierung längst überfällige Maßnahmen ergreift, um das Energiesystem zu modernisieren und eine grüne, nachhaltige Wirtschaft aufzubauen. Doch Kritiker warnen, dass hohe Energiekosten, übermäßige Bürokratie und Fachkräftemangel die wirtschaftliche Erholung behindern könnten. Die kommenden Jahre werden entscheidend sein, um Deutschland wieder auf einen stabilen Wachstumskurs zu bringen.

Die gesamte Ruhr-Region und insbesondere Gelsenkirchen zeigen, dass kontinuierlicher Wandel notwendig ist, um wirtschaftliches Wachstum aufrechtzuerhalten. Dies betonte ein Unternehmer aus der Region gegenüber Reuters während einer Werksbesichtigung. Sein familiengeführtes Unternehmen, das seit 1889 besteht, beschäftigt immer noch rund 2.000 Mitarbeiter, die sich mit der Verzinkung von Stahl beschäftigen.

Allerdings hat die in der deutschen Verfassung verankerte Schuldenbremse es aufeinanderfolgenden Regierungen erschwert, dringend benötigte Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Fachkräftetraining zu tätigen, um Deutschlands angeschlagenes Wirtschaftsmodell zu modernisieren. Die Schuldenbremse wurde 2009 als Reaktion auf die Finanzkrise unter Bundeskanzlerin Angela Merkel eingeführt und begrenzt das Haushaltsdefizit des Bundes auf nur 0,35 % des BIP. Zum Vergleich: Das Haushaltsdefizit der USA lag im vergangenen Jahr bei über 6 % des BIP.

Reuters sprach mit acht Einwohnern von Gelsenkirchen sowie mit führenden Politikern und Ökonomen, die betonten, dass eine neue Regierung grundlegende Reformen des exportorientierten Wirtschaftsmodells Deutschlands in Betracht ziehen müsse. Dazu könnte auch eine Überarbeitung der Schuldenbremse gehören, um die wirtschaftliche Erholung zu fördern.

Politische Kehrtwende möglich?

Friedrich Merz, der Spitzenkandidat der CDU und favorisierte Kanzlerkandidat einer möglichen Koalitionsregierung, hält sich hinsichtlich einer Reform der Schuldenbremse bedeckt. Offiziell vertritt er die Position, dass sie in der Verfassung bleiben muss und keine Reform geplant sei. Dennoch berichten Insider, dass Merz hinter verschlossenen Türen erkannt habe, dass Änderungen unvermeidlich seien, insbesondere angesichts des hohen Investitionsbedarfs in Wirtschaft und Verteidigung.

“Natürlich wird es nach der Wahl eine Reform geben,” sagte ein hochrangiger CDU-Politiker gegenüber Reuters unter der Bedingung der Anonymität. Eine mögliche Lösung könnte darin bestehen, die strikten Ausgabengrenzen für die 16 Bundesländer zu lockern, die unter der aktuellen Regelung keine jährlichen Defizite aufweisen dürfen. Experten zufolge könnte bereits eine geringe Lockerung 6 Milliarden Euro pro Jahr freisetzen – zwar hilfreich, aber kein wirklicher Wendepunkt für die Wirtschaft.

Gelsenkirchen: Ein Symbol des wirtschaftlichen Niedergangs

In Gelsenkirchen sind die Folgen des wirtschaftlichen Abschwungs allgegenwärtig. Während die Stadt in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg eine tragende Rolle im “Wirtschaftswunder” spielte, begann der Niedergang bereits in den 1960er Jahren mit dem Rückgang von Kohle- und Schwerindustrie. Die Bevölkerung schrumpfte von 390.000 auf heute rund 260.000 Einwohner, während das Einkommen pro Kopf eines der niedrigsten in Deutschland ist.

Klaus Herzmanatus, ein ehemaliger Bergmann in vierter Generation, musste im Jahr 2000 mit nur 40 Jahren frühzeitig in den Ruhestand gehen, da viele Zechen geschlossen wurden. “Wir sind eine Industrienation. Wir können es uns nicht leisten, die Industrie dem Chaos zu überlassen,” sagte er gegenüber Reuters. Viele Gelsenkirchener teilen seine Frustration und fordern eine wirtschaftspolitische Wende.

Die Unzufriedenheit spiegelt sich auch in Wahlergebnissen wider: Während die Region einst eine Hochburg der SPD war, gewinnt die rechtspopulistische AfD zunehmend an Einfluss. Bei der Europawahl im Juni erreichte sie in Gelsenkirchen 22 % der Stimmen – ihr bestes Ergebnis bundesweit. Besonders die Energiepolitik wird von der AfD als zentrales Wahlkampfthema genutzt. “Wir haben einige der sichersten Atomkraftwerke der Welt abgeschaltet, um Strom aus französischen Atomkraftwerken zu importieren,” kritisierte der lokale AfD-Politiker Christian Loose.

Investitionen dringend notwendig

Deutschland steht vor enormen strukturellen Herausforderungen: Energieversorgung, Klimaschutz, Wohnungsbau, Verkehr und Bildung benötigen laut dem Institut der deutschen Wirtschaft (IW) allein in den kommenden zehn Jahren Investitionen in Höhe von 600 Milliarden Euro.

Deutschland hat im internationalen Vergleich eine relativ geringe Schuldenquote von 63 % des BIP, während die USA mit 123 % des BIP deutlich höher verschuldet sind. Trotzdem halten konservative Kreise in Deutschland weiterhin an der Schuldenbremse fest.

Ein Kompromiss könnte sein, dass sich SPD und Grüne in einer großen Koalition unter Merz darauf einigen, bestimmte langfristige Investitionen von der Schuldenbremse auszunehmen. Merz hat eine Zusammenarbeit mit der AfD ausgeschlossen, doch Experten betonen, dass eine wirtschaftliche Kurskorrektur unumgänglich ist. “Deutschland muss investieren, während alle anderen Länder es bereits tun,” sagte Nikolaus Wolf, Direktor des Instituts für Wirtschaftsgeschichte an der Humboldt-Universität Berlin. “Alles andere wäre wirtschaftlicher Selbstmord.”

Lernchancen verpasst?

Einige Beobachter meinen, dass Gelsenkirchen ein Beispiel dafür ist, wie deutsche Wirtschaftsverantwortliche Chancen verpasst haben. Während die Nachbarstadt Bochum bereits 1965 die erste Universität der Region gründete, um sich auf eine wissensbasierte Wirtschaft umzustellen, hielt Gelsenkirchen an Kohle und Stahl fest und eröffnete seine erste Hochschule erst 1992. “Viele Fehler wurden gemacht,” sagte Karl-Martin Obermeier, Professor an der Westfälischen Hochschule.

Bürgermeisterin Karin Welge (SPD) sieht die Stadt nach wie vor in einer schwierigen Lage und fordert mehr finanzielle Spielräume: “Wir sind auf die Unterstützung des Staates angewiesen. Eine Reform der Schuldenbremse könnte auch die Rückzahlung alter Schulden erleichtern und Investitionen ermöglichen.”

Keine schnelle Wende in Sicht

Wirtschaftsexperten rechnen nicht damit, dass die nächste Regierung tiefgreifende strukturelle Veränderungen priorisieren wird. Bereits jetzt prognostizieren zwei große Wirtschaftsinstitute, dass Deutschland 2025 das dritte Jahr in Folge eine schrumpfende Wirtschaft verzeichnen könnte – die längste Phase der Stagnation seit dem Zweiten Weltkrieg.

Franziska Palmas, Senior Economist bei Capital Economics, betonte, dass Deutschland durch bessere Rahmenbedingungen für Start-ups und Digitalisierung seine langfristigen wirtschaftlichen Aussichten verbessern könnte. Doch diese Themen würden in der kommenden Legislaturperiode kaum Priorität haben.

Zurück in Gelsenkirchen bleibt Herzmanatus dennoch optimistisch: “Wir kommen da wieder raus.”

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